JOCHEN ROBES ÜBER BILDUNG, LERNEN UND TRENDS

Dossier zum Einsatz von Empfehlungssystemen auf Weiterbildungsplattformen erschienen

Wenn die Trends digitaler Bildung verhandelt werden, ist immer wieder von der Personalisierung des Lernens die Rede. Intelligente „adaptive“ Lernumgebungen verarbeiten die in digitalen Lernprozessen anfallenden Daten und passen sich an die Wünsche, Bedürfnisse und Kenntnisse der Lernenden an. Ein bekanntes Beispiel, das die Möglichkeiten der Personalisierung verdeutlichen soll, sind Empfehlungssysteme („Recommendersysteme“), wie wir sie von großen Einkaufs-, Video- und Musik-Plattformen kennen.

Das vorliegende Dossier (27 Seiten) ist im Rahmen des INVITE-Wettbewerbs des BMBF entstanden. Es will den „Einsatz von Recommendersystemen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowohl aus technischer als auch didaktischer Perspektive beleuchten“ (S. 4).

– Im ersten Kapitel findet sich zum Beispiel eine hilfreiche Klassifikation verschiedener Ansätze von Recommendersystemen (siehe Grafik).
– Im zweiten Kapitel wird der Einsatz von Recommendersystemen im Bildungsbereich diskutiert. Wo können Empfehlungen in Lehr- und Lernszenarien Sinn machen? Genannt werden: „Gute Inhalte finden“, „Einen Lernpfad empfehlen“, „Eine Lernaktivität vorschlagen“, „Lernpartner_innen finden“, „Vorhersage von Lernerfolg“.
– Im dritten Kapitel werden schließlich, sehr ausführlich, die Herausforderungen diskutiert, die mit der Entwicklung und dem Einsatz von Recommendersystemen einhergehen.

Nachdem ich das Dossier aufmerksam gelesen habe, möchte ich zwei Punkte kurz hervorheben:

Es gibt auch heute noch eine große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis! Es gibt einige wenige Systeme, die international im Hochschulbereich eingesetzt werden. In der Aus- und Weiterbildung gibt es nichts, kein Beispiel, kein Anbieter, kein Unternehmen, keine Studie, die hier explizit genannt werden! (Warum wurde eigentlich nicht auf Learning Experience-Plattformen wie Degreed eingegangen, die meines Wissens schon länger im Rahmen von Content Curation mit Empfehlungen arbeiten?) Diese Lücke liest sich im Dossier wie folgt:
„Zwar werden Recommendersysteme für unterschiedliche Bildungszwecke inzwischen immer häufiger eingesetzt, insgesamt sind sie in den verschiedenen Bildungsbereichen jedoch noch wenig verbreitet (Krauß, 2018, S. 8). In der beruflichen Aus- und Weiterbildung werden Recommendersysteme bislang nur selten eingesetzt …“ (S. 11)

Der zweite Punkt ist technischer Art: Recommendersysteme setzen auf bestehenden Lernumgebungen und Lernplattformen auf. Es braucht also sehr viele Nutzer und sehr viele Aktivitäten, um hier zu sinnvollen Empfehlungen zu kommen, wie wir sie von den Marktplätzen im Netz kennen. Gerade im Hochschulbereich, wo es die meisten Anwendungen und Studien zu geben scheint, springt der Nutzen von Empfehlungssystemen nicht so richtig ins Auge. Studierende suchen Bildungsangebote ja vor allem im Rahmen ihrer Fächer und Curricula. Dieses grundlegende Problem wird im Dossier nur kurz angesprochen:
„Zu bedenken bleibt hier allerdings, dass sich ein praktisches Problem aus der großen Menge an verschiedenen, aber unverknüpften Lernplattformen ergibt: hunderte Lernplattformen bieten mittlerweile Kurse an und implementieren Recommendersysteme, die auf die Kurse der eigenen Plattform zugreifen. Dadurch droht ein ‚lock-in‘-Effekt: Betriebe finden nicht unbedingt die passendsten Angebote, sondern nur die passendsten Kurse, die innerhalb der Plattform, die sie gerade nutzen, angeboten werden. In Zukunft könnte dieses Problem durch interoperable Plattformen oder durch gemeinsame Vorhaben im Rahmen der Nationalen Bildungsplattform, Gaia-X oder auch dem INVITE-Wettbewerb verringert werden.“ (S. 20)

Es findet sich im Dossier eine interessante Liste mit 17 INVITE-Projekten, die Recommendersysteme auf ihrer ToDo-Liste haben. Und die Verknüpfung des Themas mit den Zielen der Nationalen Bildungsplattform (siehe oben) fehlt natürlich auch nicht.
mmb-Institut, Mai 2022